preloder

einsamkeit oder wie alles gut wird

 

Einsamkeit ist der wahre Schmerz. Und wahre Einsamkeit ist, wenn du dich am einsamsten fühlst, immer dann, wenn du gar nicht allein bist.

 

Wir gingen die zugefrorene Treppe hinab, ganz vorsichtig, wir hatten Angst zu stürzen, so reichten wir uns netterweise die Hände. Wir waren zu sechst. Kamen gerade aus dem Kino. Schon etwas angetüdelt vom Sekt, vor dem Film bei mir zu Hause. Aber anders ertrugen wir Johnny Depp als Pirat nicht. Marlene rutschte aus und fiel fast hin, doch Freddy rettete sie ritterlich. Es brach ein lautes Gelächter aus – nicht wegen dem Ausrutschen, sondern der urpeinlichen Rettungsaktion, in der sich Freddy profilieren wollte. Alle wussten, dass er Marlene toll fand, deswegen war es noch komischer. Marlene verstand nichts und bedankte sich nur. Sie verstand oft nichts, aber wir kannten alle niemanden der herzlicher war als sie. Tobi machte noch eine Weile über den hoffnungslos Verknallten Witze, weil Tobi oft nicht verstand wann Schluss war oder wenn etwas nicht mehr witzig war. Elisabeth sagte, er soll sein Maul halten. Ihr Freund Paul, der neben ihr hertrottete, sagte wie immer nichts. Er war immer ruhig, doch wenn du ihn mal was fragtest, erzählte er die besten Geschichten. Nach langem Überlegen im Fahrstuhl in welche Etage wir mussten, kamen wir doch noch bei unserem Autos im Parkhaus an. Tobi und Freddy fuhren bei Elisabeth und Paul mit und Marlene nahm mich mit. Sie ließ mich in meiner Straße raus. Die letzten Meter lief ich allein. Allein durch den Schnee. Nur das Knirschen des flauschig gefrorenen Wassers konnte man unter meinen schwarzen Schnürstiefeln hören. Ich war die erste, die sich im frisch gefallenen Weiß verewigen konnte. Alle paar Schritte drehte ich mich um, um meine Fußspuren anzuschauen. Schön. Zufrieden ging ich im orangefarbigen Straßenlaternenlicht die letzten Stufen zu meiner Haustür hoch. Entspannt kramte ich den Schlüssel zu meiner Wohnung aus der Jackentasche und schlüpfte hinein. Schlüpfte in meine weiß gestrichene Wohnung. Ich schaltete das Licht an und sah mein Gesicht mit rosa Wangen unter einer tiefsitzenden schwarzen Mütze. Ich erschrak, als ich mein Lächeln sah. Es verschwand sofort. Ich lag im Bett und dachte über den heutigen Abend nach. Wir waren alle zuerst hier. Ich muss noch aufräumen. Wir hatten eine lustige Zeit. Wir schauten den Film. Ich saß zwischen Elisabeth und Tobi. Marlene fuhr mich netterweise nach Hause. Ich habe sogar gelächelt. So kann es doch weitergehen. Alles wird gut.

 

In zwei Wochen ist Valentinstag. Alles ging seinen gewohnten Gang. Alle gingen ihrer Arbeit nach und ich meinem Studium. Die anderen waren mit ihrem Studium schon fertig, bei mir dauerte es etwas länger, weil ich zwischenzeitlich einen Fachwechsel hatte. Ich pendelte jeden Tag zur Uni. Eine Stunde saß ich jeden Morgen und jeden Abend im Zug. Meistens länger. Wir wohnten alle in der gleichen mittelgroßen Stadt. Nach Köln zu ziehen, wo meine Uni war, traute ich mich nicht, weil ich Angst hatte mein Umfeld zu verlassen und mich noch mehr verloren zu fühlen. Meine Freunde interessierte das eher weniger. Manche machten ein Fernstudium. Freddy machte eine Ausbildung und der Rest pendelte mit dem Auto zu einer Uni nicht zu weit weg. Ich hatte meine Kopfhörer drin. Noch drei Haltestellen, dann musste ich in die kalte, gnadenlose, stinkende und laute Luft Kölns. Vom Südbahnhof waren es zum Glück nur fünf Minuten bis zu meiner Fakultät. Heute war der letzte Tag mit Präsenzveranstaltungen vor dem Semesterferien bzw. vor der Klausurenphase bzw. vor meinem kreativen Loch, in dem ich vollkommen leer werde, gleichzeitig Kraft verliere und Kraft tanke, weil nichts zu tun für einen Monat sehr anstrengend ist, weil du den Bezug zum Alltag verlierst, wenn du in deinen Gedanken gefangen bist und gleichzeitig ist es befreiend, weil du mit niemanden reden musst und zu neuen Erkenntnissen kommen kannst. Heute war eine reine Fragerunde bezüglich der Klausur in dem einen Seminar und in der Vorlesung wurde das Semester mit dem Abschlussthema und einer Diskussionsrunde beendet. Normalerweise würde ich mich jetzt in die Mensa schleppen lassen, aber Anja war heute nicht da. Soll ich schon nach Hause fahren? Aber was mach ich dann den ganzen Tag? Nein, ich fahre eine Stunde später. Ich ging nicht zum Südbahnhof, sondern fuhr mit der Neun zum Neumarkt und schlenderte durch die Schildergasse.

Ich war abwesend, ein Beobachter meiner selbst. Die Menschenmassen gehörten zur Kulisse. Sie bewegten sich kaum. Ich schlenderte, drehte meinen Kopf nicht bewusst nach links und rechts, sondern ließ den Blick einfach durch alles hindurchsehen. Ich ging in keinen Laden rein, immer daran vorbei. Es war so still, bis ich ein Gesprächsfetzen hörte und dann wurde es immer lauter, bis es unaushaltbar wurde und ich bereute hier her gekommen zu sein. Ich bat Passanten nur mit meinen Augen um Hilfe. Keiner schaute mich an. Ich suchte hektisch nach einem ruhigen Ort. Doch nirgends war es ruhig. Ich setze mich unter einem Baum, auf eine Bank, die auf der Domplatte stand und steckte mir beleidigt Kopfhörer in die Ohren – beleidigt vom Lärm. Ich würde ruhiger. Ich hätte sofort fahren sollen. Was habe ich mir gedacht? Ich blickte auf die große Uhr hinter mir, die auf der Frontseite des Hauptbahnhofs. Noch dreißig Minuten bis mein Zug kommt. Ich war wieder am Tagträumen, von besseren Tagen. Das ist das einzige was die Zeit vergehen lässt. So mühelos versetzte ich mich in irgendwelche ausgedachten Szenarien, die nie passiert sind und die passieren werden, aber die schön sind. Szenarien, in denen ich die Hauptfigur bin. Die Zeit ist um. Erschöpft von den Menschen um mich, bewege ich mich zu meinem Gleis, noch halb am Träumen, nicht anwesend. Nie anwesend. Ich bin nie anwesend. Ich bin nie in der Gegenwart, im Hier. Ich bin entweder am Träumen oder außenstehender Beobachter der Situation, in der ich mich befinde, aber nie Teilnehmer. Nie teilnehmen möchte und nie gefragt werde, ob ich teilnehmen möchte. So schaue ich mir alles interessiert an und zerlege jede vergangene Sekunde in ihre Einzelteile, sobald ich zu Hause bin, weil ich nichts anderes zu tun habe und keine Kraft, um etwas anderes zu tun zu haben. Ich erlebe Dinge, aber nie wirklich, nie ohne ein stechendes Gefühl weit im Hinterkopf, welches mir alle Leichtigkeit nimmt und das Genießen unmöglich macht. Auch wenn ich lache und mich freue und herumalbere, ist das für mich kräftezehrend, weil es nie unbeschwert ist, immerzu denke ich an etwas. An irgendwas Unnötiges.

Der Zug kommt. Die Tür geht auf. Ich steige ein. Ich gucke aus dem Fenster. Ich gucke immer aus dem Fenster. Ich gucke mein ganzes Leben lang aus dem Fenster. Mein Leben ist ein Aus-dem-Fenster-gucken. Ich bin gleichzeitig hinter dem Fenster und davor. Alles fährt an mir vorbei, ohne mein dazutun, langsam und gleichzeitig schnell. Mein Handy vibriert. Ich zucke.

 

„Du wirst es nicht glauben, aber…“, Marlene fing an von ihrem ersten Date mit Freddy zu erzählen. Ein romantisches Essen, dann schliefen sie miteinander. Ich freute mich für sie.

„Ach, ich plappere die ganze Zeit von mir. Wie ist es denn bei dir an der Liebesfront?“

Ich hasste dieses Wort und ich hasste diese Frage. Mein letztes Date hatte ich wahrscheinlich nach dem Abschluss, dem Schulabschluss. Ich war jetzt im fünften Semester. Seitdem habe ich mich verschlossen. Zunächst weil ich den Liebeskummer nicht besiegen konnte und dann, weil ich vor allem geflüchtet bin. Ich beobachtete, ich lebte nicht, ich spürte nicht – nicht, weil ich es so beschlossen hatte, sondern weil es so passierte, weil ich so war, weil ich nicht anders konnte. Ich konnte nicht loslassen, ich konnte mein Fenster nicht loslassen.

„Alles beim Alten.“, sagte ich. Sie seufzte. „Ich würde dir gerne helfen.“, fügte sie noch hinzu. „Du brauchst mir nicht zu helfen.“, sagte ich lachend. Brauchte ich wirklich keine Hilfe? Nur ich kann mir helfen. Alles wird gut.

 

Wir halfen Freddy und Marlene einige Monate später beim Umzug. Um elf Uhr abends saßen wir auf dem Boden und aßen Pizza. Es war gerade erst dunkel geworden. Wir stießen mit Bier auf ihre gemeinsame Wohnung an. Tobi sagte etwas, etwas was so nicht stimmte, das wusste ich, weil ich dazu etwas gelesen hatte. Paul war schon dabei ihn zu verbessern, aber ihm fiel ein Wort nicht ein, was ich wusste. Ich wollte was sagen, hatte aber, dann als ich ansetzte keine Kraft. So als würden meine Muskeln plötzlich erschlaffen. Ich lehnte mich hinten an die Wand und trank meine Cola. Bier mochte ich nicht.

„Wolltest du nicht etwas sagen?“, fragte mich Marlene.

„Hat sich schon erledigt.“, ich hob beruhigend die Hand.

„Ach komm, sag doch!“, Tobi hakte nach.

„Ich wollte das gleiche wie Paul sagen und das Wort was ihr sucht ist Fermentierung.“

„Oh verzeih Frau Doktor.“

Ich wünschte, ich hätte nichts gesagt. Es ist nichts weiter passiert. Ein harmloser Spruch. Niemandem wurde wehgetan. Das verstehe ich auch. Aber nicht mehr bloß Beobachter zu sein, sondern Teilnehmer, ist anstrengend und alles was an Reaktionen kommt, wirft mich aus der Bahn. Ich lehne mich wieder, an die Wand und fing an zu träumen, um mich zu beruhigen. Ich schaute aus meinem imaginären Fenster. Freddy holte Whisky. Er wollte richtig auf die Wohnung anstoßen. Ich ging nach Hause. Niemand hatte Einwände. Manchmal bin ich eine Spaßbremse. Eine ernste, melancholische, verklemmte idiotische Spaßbremse. Es war eine heiße Julinacht. Ich ging den zwanzigminütigen Weg zu Fuß. Busse fuhren um diese Zeit nicht mehr. Die anderen übernachteten auf dem Boden in Freddys und Marlenes erster gemeinsamer Wohnung. Ja manchmal schloss ich mich selbst aus. Ich nahm mich selber aus der Situation raus, weil es mir zu anstrengend war beteiligt zu sein. Manchmal wollte ich auch einfach kein Teil der Gruppe sein. Manchmal wurde ich etwas überheblich und dachte ich wäre etwas Besseres und war überzeugt zu wenig Aufmerksamkeit zu bekommen und deswegen sagte ich nichts, sondern entfernte mich – klingt logisch, nicht wahr?

 

Nächstes Wochenende luden uns Elisabeth und Paul zum Grillen auf ihrer Terrasse ein. Letztes Jahr bauten sie ein Haus. Es war stickig draußen. Es gab Schaschlik vom Fleisch und Schaschlik mit Gemüse, diverse Salate und Alufolienkartoffeln. Marlene brachte selbstgemachten Punsch mit. Tobi war besoffen und spielte im Garten Fußball gegen sich selbst. Paul und Freddy hörten Fußball im Radio. Marlene fragte Elizabeth gerade nach einem Rezept. Ich trank Rotwein. Einundzwanzig Uhr. Plötzlicher Platzregen. Alle schrien und sammelten sich eng an der Tür unterm Dach. Ich lachte in vollen Zügen los, exte mein Glas und lief in den Garten. Hob die Arme und den Kopf und drehte mich im Kreis.

„Bist du verrückt geworden?“, schrie Paul.

„Gleich trifft dich noch ein Blitz!“, Elli fluchte.

„Kommt! Kommt her! Es ist wunderbar!“, sagte ich.

„Nee lass mal.“, antwortete Freddy.

Das war meine andere Seite. Wenn irgendein Schalter umgelegt wurde, konnte ich albern, ja sogar bescheuert sein. Dafür mochten mich meine Freunde – für diese bescheuerte Seite, aber heute hatten sie keine Lust mit mir im Regen zu tanzen. Schließlich lachten sie mit mir. Das Fußballspiel war zu Ende und sie machten endlich Musik an. Are You Ready To Fly – Dune. Elisabeth scheuchte alle dazu auf das Essen reinzubringen. Es war schon längst hinüber. Durchnässt. So wie ich – wie mein schwarzes Wickelkleid mit weißen Punkten. Meine Vans waren voller Matsch. Die Haare hingen wie Schnüre links und rechts an meinem Gesicht herunter. Verschmierte Wimperntusche lief über meine Wangen. Ich war glücklich, gleichzeitig fühlte ich mich blöd. Der Regen hörte auf. Ich tanze zu Dune und schenkte mir selbst ein Glas Wein ein. Tobi bot mir eine Zigarette an, er wusste, wenn ich so drauf war, rauchte ich gerne. Er rauchte mit mir. Wir tanzten. Chemistry –  Dune. Ich hüpfte und drehte mich bis mir schwindelig wurde. Bis ich mich setzten musste, die anderen saßen schon längst. Ich bekam Schluckauf. Hardcore Vibes – Dune. Ich schloss die Augen und wippte zur Musik. Die anderen diskutierten wieder über etwas. Es war mittlerweile stockfinster. Nur ein paar kleine Lichter und Kerzen leuchteten im Garten. Meine Augen waren nach wie vor geschlossen. Ich war am Einschlafen. Elli deckte mich zu. Mir gings gut. Alles wird gut.

„Sie hat sich heute echt weggeballert.“, Tobi lachte.

„Lass sie doch!“, Marlene legte die Decke über meine linke Schulter.

„Ich sag ja nichts. Ich gönne es ihr.“, Tobi rülpste.

„Ja in letzter Zeit war sie nicht gut drauf.“, sagte Paul.

Ich tat so, als würde ich aus einem tiefen Schlaf erwachen.

„Oh, Prinzessin! Ausgeschlafen?“ Freddy stach mich in die Seite.

„Gibt es noch O-Saft?“, ich gähnte. Alle lachten.

„Geht es dir gut?“, Marlene erkundigte sich. Sie hatte nur Angst davor, dass ich kotzen könnte, wäre nicht das erste Mal, aber ich fühlte mich gut.

„Ich fühl mich gut.“

Sie flüsterte okay. Schlagartig war ich genervt. Ich trank meinen O-Saft langsam und langweilte mich eine Weile.

„Leute, ich bin total müde. Ich denke, ich gehe. War schön heute mit euch.“, ich suchte meine Sachen zusammen und stand auf. La Passion – Gigi D’Agostino. Alle verabschiedeten sich herzlich, als wären sie traurig, dass ich schon (um kurz nach zwei) ging. Paul und Elli wohnten nur drei Straßen weiter. Die kühle, frische Luft strömte in meine Lungen. Ich lief, als wäre ich leicht wie eine Feder.

 

Im August schrieb ich meine Hausarbeiten und gab ausnahmsweise schon etwas früher ab, weil ich diesen Monat wirklich nichts anderes gemacht habe, außer zu schreiben, es war zu heiß zum Rausgehen und die anderen waren alle im Urlaub. Einmal war ich mit Anja an der Talsperre und verbrannte mir den Rücken. Aber sonst war da nichts. Es war in Ordnung. Ich fand mein Thema für die Hausarbeit interessant. Anfang September gab ich ab und hatte bis Oktober Zeit – erst da fing das Wintersemester an. Ich studierte Kunstgeschichte. Ich wollte unbedingt im Museum arbeiten, in einer hohen Position. Das war mein Traum. Für mich war das Museum das beste Medium für Bildung – Bildung ganz allgemein. Zuerst studierte ich jedoch Jura, auf den Rat meiner Eltern, die mich gerne als Anwältin gesehen hätten, aber dafür war ich nicht skrupellos genug, nicht ehrgeizig genug. Dennoch finanzierten sie mich komplett – auch wenn Kunstgeschichte für sie albern war.

 

Manchmal wenn ich komplett allein war, wirklich ganz, ganz allein war und alles – alles still war, vermisste ich das Gefühl jemanden zu vermissen. Ich wollte dieses kleine stechende Gefühl in meiner Brust fühlen, dass ich verliebt war, dass ich jemanden brauchte, dass ich jemanden aus tiefstem Herzen vermisste. Das wünschte ich mir manchmal, wenn ich in meinem Bett lag, an die Decke starte und kleine geschmacklose Tränen mir die Schläfen herunter flossen bis sie in meinen Haaren landeten. Dieses Gefühl fehlte mir. Eine Person vermissen – das ist eines der stärksten Gefühle, wenn man allein ist. Du bist allein und du sehnst dir nichts anderes, als diese eine Person herbei und dieser Schmerz dieser kleine Schmerz, den du spürst in deiner Brust, in deinem Herzen, er tut weh, aber du weißt irgendwann wirst du diese Person nicht mehr vermissen, weil sie dann bei dir sein wird und der Schmerz, du wirst dich nicht mal an ihn erinnern, er wird einfach weg sein. Ja das vermisste ich, dieses kleine schmerzende Gefühl. Ich schloss die Augen und zwei letzte kleine geschmacklose Tränen liefen mein Gesicht herunter. Ich drehte mich auf dem Bauch und schlief ein. Alles wird gut.

 

Früher war Hoffnung für mich albern, nichts was es sich zu haben lohnt. Hoffnung braucht man nicht, dachte ich. Ich dachte, es würde ohne gehen. Ich dachte, ich wäre schlauer als alle anderen, weil ich den Code geknackt habe – wenn ich keine Hoffnung habe, bin ich glücklicher. Alles wird gut – auch ohne Hoffnung. Hoffnung ist was für Schwächlinge, dachte ich. Und deswegen verschloss ich irgendwann alle Türen, alle Fenster und verließ meine Wohnung nicht mehr. Ein paar Mal fragten mich die anderen, ob ich mitkommen würde, was essen, zum Weihnachtsmarkt, ein Film bei Elli und Paul gucken, ein paar Mal fragten sie mich. Jedes Mal sagte ich nein. Und dann fragten sie nicht mehr. Und ich war zufrieden. Zufrieden, dass ich mich jetzt gänzlich in meinem Selbstmitleid wälzen konnte. Jetzt war ich allein. Niemand wollte mich. Ich fühlte mich wie eine Heldin. Ich brauche euch nicht! Ich schaffe es allein. Ihr könnt mir eh nicht helfen! Durch mein Selbstmitleid fühlte ich mich, als wäre ich so viel mehr Wert. Ich war einsam und stolz drauf. Es schmerzte zwar, aber ich fühlte mich stark.

Bis ich mich nicht mehr stark fühlte. Ich fühlte mich schwach und Einsamkeit war nichts gutes mehr. Ich weinte wieder. Ich konnte endlich wieder weinen. Ich fühlte mich elend. Verlassen. Verraten. Wo sind bloß alle? Wo seid ihr? Warum seid ihr nicht hier? Ich brauche doch bloß ein liebes Wort. Bitte. Wo seid ihr? Ich fühlte mich so dreckig. Schmutzig. Schmutzig vom Selbstmitleid. Ich ekelte mich. Ich wollte die Augenringe nicht mehr im Spiegel sehen. Ich schluchzte so laut, dass ich heiser wurde. Es tat so weh. Es tat so weh, allein zu sein. Alles wird gut.

 

Alles wird gut – redete ich mich mir ein. Alles wird gut. Alles wird gut. Wirklich, es wird alles wieder gut. Ich konnte schmunzeln, über meinen naiven Optimismus.

Schon wieder wurde es Frühling und ich traute mich spazieren zu gehen. In meiner Wohnung stank es nach Schweiß und Schlaf. Die Sonne schien und der Himmel war blau. Frühlingskrokusse und Schneeglöckchen. Frisch gewaschene Autos kamen aus den Waschanlagen. Grillgeruch. Ich atmete tief ein. Und überlegte, ob Hoffnung vielleicht nicht albern ist, dass Hoffnung nichts für Schwächlinge ist. Hoffnung ist etwas für die, die sich entscheiden stark zu sein. Stärker als ich. Stärker als der Schmerz. Hoffnung gibt dir Kraft, überlegte ich. Die Leute, die vorbei gingen, lächelten mich an und ich bekam Hoffnung. Hoffnung, dass alles gut wird. Vielleicht würde ich noch eine Weile allein bleiben – doch ich hatte Hoffnung, auch wenn ich mir trotzdem albern und viel zu erwachsen vorkam. Alles wird gut.

 

venus und mars

Kurz nach 22:00 Uhr. Wir waren die letzten Kunden im Supermarkt. Nur mit einer Chipstüte und Eistee verließen wir den Laden. Im Auto blieben wir erstmal sitzen, so wie immer und tranken unseren Eistee und aßen unsere Chips. Die Laternen erleuchteten den Parkplatz orange. Ich liebe dieses orangefarbene Licht. Es ist so warm und trocknet nicht die Augen aus, wie dieses kalte, sterile, weiße Licht überall. Die alten gelb-orange-farbigen Lichter erzeugten eine beruhigende, gemütliche Parkplatzatmosphäre. Die letzten Mitarbeiter verließen das Geschäft. Nahe dem Eingang, bei der großen Lichtquelle, standen drei BMW 3er und drei Jugendliche mit kurzgeschorenen Haaren, in dicken schwarzen Bomberjacken von Alpha Industries, sie rauchten und tranken Wodka-E. Wir lachten sie aus. Wir lachten immer alle aus, weil wir dachten, wir wären etwas Besseres. Wir lebten in unserer kleinen Fantasiewelt und ließen nur selten Außenstehende rein. Kid Cudis neues Album lief im Hintergrund. Wenn nicht er, dann Jaden Smith oder The Weekend oder YUNGBLUD oder unsere Metal-Playlist mit Ghost, Metalica und Rob Zombie. Die Musik lief leise, deine Hand ruhte sanft auf meinem Oberschenkel und wir redeten die ganze Nacht. Manchmal beobachteten wir, manchmal hörten wir zu und manchmal da stritten wir sogar oder diskutierten über die verschiedensten Themen, wie Sternzeichen oder über die Relevanz von Mathe oder Außerirdische.

Dieser Sommer war magisch. Nachts trafen wir uns, Tags über schliefen wir und am Nachmittag bräunten wir uns und grinsten dabei über beide Wangen. Wir hatten uns vor zwei Wochen kennengelernt und noch nie geküsst. Auf einmal hast du das Auto gestartet. Ich fragte, wohin du fahren willst, du sagtest nur, ich werde schon sehen. Wir fuhren durch unsere kleine Stadt, die Laternen erleuchteten sie. Die kleinen Geschäfte wie Juwelier, Bäcker, Restaurant und die großen Supermärkte und Industriefirmen, die Fabriken, wo ein Großteil der Leute arbeitete und die Imbisse, wo sie sich ihr Mittagessen holten – Currywurst Pommes rot-weiß. Auch mein Vater arbeitete hier in einer der Fabriken, bis er krank wurde – Krebs. Er starb letzten Sommer. Und jeder Winkel dieser Stadt erinnert mich an ihn. Er war ein Freund und das Familienoberhaupt in einer Person.

Wir fuhren an meiner alten Schule vorbei, wo ich vor einigen Wochen meinen Abschluss gemacht habe und du schon letztes Jahr. Und obwohl wir auf der gleichen Schule waren, haben wir nie ein Wort gewechselt. Wir trafen uns ganz zufällig, so wie man alle zufällig trifft, auf einer Party in einer Kneipe (in Köln würde man Bar sagen, aber wir sind auf dem Land). Nun wir fuhren auch an dieser Kneipe vorbei und bogen dann schließlich in eine Wohngegend ab. Haus an Haus, Einfamilien-, Mehrfamilien-, Zweifamilienhäuser, ein Spielplatz, ein Kindergarten, ein großer protziger Garten. Wohin wir fuhren, fragte ich wieder, wirst du schon sehen, sagte er abermals und lachte. Wieder bogen wir ab, diesmal kamen wir auf eine kleine, enge Landstraße. Links ein Maisfeld – rechts eine Kuhweide und überall riesige Strommasten, geradeaus ein Laubwald. Am Ende der Straße bogen wir ab und ich wusste wo wir hinwollten. Im Prinzip waren wir schon da. Auf der anderen Seite des Maisfelds lief die Straße weiter und gegenüber dem Maisfeld, auf der anderen Seite, verlief ein Weizenfeld, mit einer Steigung nach unten, sodass man von der Bank vor dem Maisfeld die Straßen sehen konnte, welche hinter dem Weizenfeld verliefen und zur nächsten kleinen Stadt führten. Du parktest das Auto neben der Bank und wir stiegen aus. Die Luft war frisch, feucht und mild. Es war kurz vor Sonnenaufgang, deswegen waren wir hier. Deswegen waren wir hier, um den Sonnenaufgang zu sehen. Von hier aus hat man einen wunderschönen Blick, nur gestört (oder bereichert) von den riesigen Strommasten. Wir betrachteten den Himmel. Sterne waren nicht mehr zu sehen. Der Himmel färbte sich schon in ein helleres blau. Nur noch der Mond war sichtbar und der Morgenstern, gleichzeitig der Abendstern, gleichzeitig die Venus. Venus – das war mein Spitzname und deiner war Mars. Geschuldet den Anfangsbuchstaben unserer Vornamen. Wir fanden es witzig uns so zu nennen. Symbolisch für Weiblichkeit und Männlichkeit – durch hunderttausende Kilometer getrennt, benannt nach Göttern und doch vereint, vereint zumindest durch uns. Wir waren vereint hier auf der Erde, auf dieser Bank, an diesem Morgen, in unserer Kleinstadt. Da sprachen wir nicht mehr, da küssten wir uns zum ersten Mal und dachten, dass wir für immer sind.

krimi zwischendurch – Epilog: dunkelheit und irgendwie Liebe

 

Ein älterer Mann kam auf Limpa zu, stellte sich neben sie, fragte sie vorne heraus, ohne sich vorzustellen und betrachtete abwechselnd das Bild von Adam und dann Limpa: „Was sehen sie?“

Mittlerweile war es September. Ein Spätsommertag wie er im Buche steht, welchen Adam im Gefängnis in Italien verbrachte.

„Ich sehe Lust und Leidenschaft – auch für das Böse. Die Abgründe im Menschen.“, antwortete Limpa, ohne sich zu regen. Die Sonne schien hell durch die Fenster. Es war heiß in Köln.

„Ich sehe Dunkelheit und irgendwie… Liebe.“, sagte der Mann.

Sie betrachteten eines der letzten Bilder die Adam vor seinem Umzug nach Venedig gemalt hatte und es war auch eines der letzten von ihm, die hier zwischen neuen Werken der jungen aufstrebenden Künstler hingen. Man wusste inzwischen, dass Adam der unsichtbare Kölner war, aber von den Bildern konnte man sich trotzdem nicht trennen. Man hatte deshalb – auch wenn es makaber klingt – eine Ausstellung mit alten Bildern von Adam und Bildern von noch unbekannten Künstlern organisiert, um ihnen eine Plattform zu bieten. Man dachte sich, auch wenn Adam ein schrecklicher Mörder war, sollte seine Bekanntheit für etwas positives genutzt werden. Sie standen in Adams altem Wohnzimmer, wo Limpa früher gewohnt hat. Die Bilder standen alle auf Staffeleien quer in der Wohnung verteilt, in allen Zimmern, auch im Bad. Das Bild zeigte eine abstrakte Darstellung von einem Wald bei aufgehender Sonne, vielleicht der Wald, in dem er seine Opfer verbrannte. Die Sonne kroch zwischen den kahlen Nadelbäumen durch, als würde sie sich den Weg erkämpfen. Wenn man wollte, konnte man zwei Silhouetten vor der Sonne sehen, die sich anblickten.  Die einzigen Farben, die er benutze, waren schwarz, braun, gelb und orange. Wobei der laub- und nadelbedeckte, trostlose und dunkle Boden den größten Teil des Bildes stellte und die Sonne nur einen Bruchteil. Man konnte die eigentliche Helligkeit nur erahnen.

„Was halten Sie vom Künstler?“, fragte der Mann.

„Ich kannte ihn.“, sagte Limpa ohne sich vom Bild abzuwenden, sie trug ein leichtes, rotes Sommerkleid.

„Tatsächlich?“, er war ziemlich erstaunt.

„Ja. Wir hatten eine Affäre in seiner aktiven Zeit… in seiner aktiven Zeit als Mörder.“, fügte sie noch hinzu.

„Und sie haben nichts gemerkt?“, er blickte sie mit großen Augen an.

„Nein und dabei bin ich Polizistin. Ironisch – nicht wahr?“, sie lachte kurz auf und drehte sich zu ihm, aber als sie sein Gesicht sah, wurde sie ruckartig ernst, „Nein mir ist nichts aufgefallen… Wir haben uns einfach geliebt.“, sie fing an zu weinen.

Der Mann ging einen Schritt zurück und blickte um sich, ob nicht jemand in der Nähe ist, den man ansprechen könnte, er fühlte sich sichtlich unwohl.

„Oh ja wir haben uns wirklich geliebt und irgendwann fraß ihn seine Lust zu morden auf und er verließ mich.“, sie wurde wieder ruhig.

„Sie haben echt Liebeskummer nach dem schlimmsten Verbrecher in der kölner Geschichte, vermutlich in der Geschichte von Europa?“

„Ja.“, sagte sie ganz ruhig und ernst.

„Finden Sie nicht, dass das verrückt ist?“

Sie verzog das Gesicht. „Sie verstehen das nicht.“

„Das tue ich tatsächlich nicht.“, er suchte mit seinen Blicken den ganzen Raum ab.

„Das war vielleicht die einzig wahre Liebe in meinem Leben.“

„Sie kommen schon darüber hinweg.“, er versuchte tröstlich zu klingen.

„Aber geliebt werde ich nicht mehr.“

„Wie wollen Sie das wissen?“

„Ich ahne es.“

„So werden Sie nicht glücklich.“

„Das verlange ich auch nicht.“

„Sie sind verrückt.“

„Was braucht man schon zum glücklich sein? Liebe – mehr nicht.“

„Mag sein. Aber Liebe gibt es nicht nur in einer Form.“, er fasste sich ans Kinn.

„Mag sein. Aber nur eine Form ist erfüllend. Und meine Liebe ist vorbei. Ein gutes hatte es aber, wenigstens weiß ich wie es sich anfühlt.“

„Sie sind verrückt. Oh… ich glaube, ich wurde gerufen. Tut mir leid, ich muss leider … auf wied-… machen sie’s gut.“, er verschwand aus der Galerie.

Limpa lächelte traurig und betrachtete noch eine Weile das Bild.

krimi zwischendurch – Kapitel 9: Zuletzt in Venedig

 

Adam saß, die Haare lässig zurückgegelt, draußen an einem Tisch vor einem Café, obwohl es bitter kalt war, und trank seinen dritten Kaffee. Er lehnte sich entspannt nach hinten, packte die Zeitung weg und beobachtete die Menschen auf dem Markusplatz. Es war Februar, kurz vorm Valentinstag und ziemlich windig. Trotzdem tummelten sich die Touristen, fütterten die Tauben und tranken heiße Schokolade. Adam gegenüber ragte der Markusdom in die Luft, er packte seinen Zeichenblock aus und zeichnete einfach drauf los, zeichnete kein großes Ganzes, sondern hier und da eine kleine Szene aus dem Panorama an Potpourri aus Umgebung und Menschen die ihr Leben genossen. Er zeichnete einen kleinen Jungen, der mit seinem Hund spielte, eine Taube, die in die Gegend schaute, ein altes Pärchen, welches sich auf einer Bank ausruhte, den Kellner wie er hinter der Theke die Getränke zubereitete, den Bischof, wie er vor der Kirche stand und mit den Menschen redete. Es war bewölkt und ziemlich ungemütlich, die Sonne ließ sich nicht einmal blicken. Trotzdem ließen sich die Leute den Nachmittag nicht verderben. Zur Abhilfe wurden Wärmelampen aufgestellt, Decken verteilt, man zog sich noch eine Schicht wärmer an, man bewegte sich, hauchte in die Hände, wärmte sich gegenseitig, brachte sich zum Lachen und küsste sich.

 

„Liebeskummer?“

Limpa starrte aus dem Fenster. Val schmunzelte und ließ sich in ihren Stuhl plumpsen.

„Was sagst du?“, sie zuckte.

„Einen guten Morgen sage ich.“, Val schüttelte den Kopf.

„Morgen.“, Limpa drehte sich wieder zum Fenster und betrachtete das emsige Treiben auf den deutzer Baustellen.

„Vermisst du ihn sehr?“, erkundigte sich Valerie.

„Ich träume jede Nacht von ihm und jeden Tag denke ich an ihn.“, sie stütze den Kopf auf ihre Hand.

„Hat er sich mal gemeldet?“, fragte Valerie.

„Nein, gar nichts.“, Limpa seufzte.

„Wie konnte er dir das bloß antun? Ich fasse es immer noch nicht.“

„Hör auf Valerie!“

Aufs Stichwort kam Gabriel rein: „Womit soll sie aufhören? Was hat sie wieder ausgefressen?“

„Ach, ich habe sie lediglich daran erinnert, dass sie auch Gefühle hat und kein Polizeiroboter ist.“, Val schielte zu Gabi rüber.

„Limpa ist kein Roboter? Was?“, beide lachten.

„Ergötzt euch ruhig weiter an meinem Leiden.“

„Ganz im Gegenteil, wollen wir doch endlich, dass der Damm bricht und du richtig trauerst und Abschließen kannst – einen Monat schaust du schon aus dem Fenster – er wird nicht zurückkommen.“

„Ich weiß.“

„Ja dann hör auf aus dem Fenster zu starren!“

Sie drehte sich energisch um, jetzt wieder ihrem Schreibtisch zugewandt, Gabi und Val direkt anblickend.

„Na geht doch, dann kann ich euch ja wieder allein lassen.“

„Gabi was wolltest du denn eigentlich?“

„Stimmt! Was wollte ich denn eigentlich?“

„Die Akte?“, Val deutete darauf.

Er guckte an sich herunter und tatsächlich hielt er in seinen Händen eine blaue Mappe.

„Ach ja die Akte“, er legte sie auf Limpas Schreibtisch, die sich das Grinsen auch nicht mehr verkneifen konnte, „Ein neuer Fall Limpa, schau es dir mal an, schwere Körperverletzung mit anschließendem Raub – Tausend Euro in Bar und ein Goldring.“

„Wer schleppt denn so viel Geld mit sich rum?“, warf Val ein.

„Ein Dealer.“, sagte Limpa müde, sich die Akte anschauend, „Was soll ich jetzt damit?“

„Arbeiten.“, Gabi ging rückwärts auf die Tür zu.

„Aber das ist doch gar nicht mein Zuständigkeitsbereich?!“

„Arbeiten!“, rief er schon halb durch die Tür verschwunden.

„Gabi hat recht. Der unsichtbare Kölner ist bestimmt über alle Berge in Jamaika oder Panama, trinkt Schnaps und kokst. Wir sollten wieder die normale Arbeit aufnehmen.“, sagte Val.

Limpa nickte und schaute sich die Akte genauer an. Es könnte tatsächlich ein Dealer gewesen sein, der verletzt wurde oder ein dummer Kunde. Das Ganze geschah gestern Nacht gegen 3 Uhr in Mühlheim, Alter und Aussehen passt, dazu rote glasige Augen und ein Goldzahn anstatt des linken Eckzahns. Die Polizei soll zwar keine Vorurteile haben, aber doch arbeiten sie nach Stereotypen und laufen damit meistens recht gut, nicht immer, aber manchmal stimmt es einfach und Limpas Gefühl hat sie noch nie im Stich gelassen.

Nach einigen Minuten des stillen Lesens: „Und Kommissarin Wolf?“, Val trommelte mit den Fingern auf den Tisch, so wie sie es immer tat.

Limpa zuckte abermals und bestätigte Valerie zähneknirschend und eher gequält, dass das ihr neuer Fall war und die beiden das Opfer im Krankenhaus besuchen würden.

 

„Aber ich habe doch schon alles ihren Kollegen erzählt.“, sagte das Opfer der gestrigen Schlägerei, mit Verband um die rechte Wange (ein Backenzahn wurde ihm rausgeschlagen), nachdem Val und Limpa sich vorgestellt hatten.

„Ja, aber wir sind andere Kollegen und nehmen uns den Fall ganz genau vor.“

„Es war doch nur ne harmlose Schlägerei.“, er fing an zu lachen, hörte aber sofort auf, hielt sich die Wange fest und schaute abwechselnd zu Kommissarin Wolf und Topika.

„Und der Raub ihrer Wertsachen?“

„Ach das … ja das ist meine Schuld. Wer schleppt so viel Geld mit sich rum?“, wieder überkam ihn ein Lachen und ein anschließender Schmerz in der rechten Wange.

Valerie setzte sich mit ihrem Notizblock aufgeschlagen: „Fangen wir doch erstmal ganz von vorne an. Was ist gestern Nacht passiert? Kannten sie die Täter? Wie viele waren es? Erzählen sie mal Herr Rosner!“

„Wo fang ich da bloß an?!“, er grinste verschmitzt und kratze sich den Kopf.

Limpa und Valerie schauten sich an.

„Herr Rosner! Gut fragen wir anders, wohin waren sie gestern Nacht unterwegs?“

„Nach Hause.“

„Gut. Von wo kamen sie?“

„Vom Feiern. Genauer bin ich aus der Bahn ausgestiegen die mich vom Feiern, bis zu meinem Zuhause gebracht hat.“

„Wunderbar. Sie waren also auf dem Weg nach Hause.“, sie notierte etwas, „Was ist dann passiert?“

„Ich wurde von hinten getreten und fiel auf die Fresse.“

„Wie viele Angreifer waren es?“, sie blickte ihn direkt an.

„Ich bin mir nicht sicher… Zwei oder drei.“

„Kannten sie jemanden von denen.“, sie schrieb wieder etwas auf.

„Nein?“, er runzelte die Stirn.

„Wieso fragen sie das uns? Wir waren nicht da. Kannten sie die Täter oder nicht?“

„Ich ehm bin mir nicht sicher.“

„Hmm das ist nicht schlimm. Ist ihnen an den Angreifern etwas aufgefallen?“

„Ich w-… weiß es nicht mehr.“

„Gibt es etwas anderes an was sie sich erinnern können? Gerüche? Stimmen? Messer? Andere Waffen? Haben sie eher professionell oder amateurhaft gewirkt?

„Sie haben gar nicht gesprochen. Das ist doch eher professionell, oder?“

Valerie nickte und schrieb wieder was auf. Olimpia kniff die Augen zusammen.

„Eine andere Frage. Sie sagten sie waren feiern, warum der große Bargeldbetrag?“

„Geht sie das was an?“

Kommissarin Topkia ließ sich nicht beirren, sie wusste, dass er mit ihnen spielte: „Wer wusste alles davon, dass sie so viel Geld bei sich hatten?“

„Was wollen sie denn jetzt mit dem Geld?“

„Wir versuchen ein mögliches Motiv herauszufinden.“

„Niemand wusste davon. Die Typen hatten einfach Glück, dass sie sich genau mich zum überfallen ausgesucht haben.“, Rosners Miene änderte sich, er wurde ganz ernst.

„Also hatten sie eher das Gefühl die wollten von vornherein einfach Geld von ihnen?“

„Ja. Die haben einfach meine Uhr und meinen Ring gesehen und dachten sich: ‚Ach der Trottel kommt gerade besoffen aus‘m Club, der ist einfache Beute.‘ Das ist die ganze Geschichte.“

„Sie sind also ein zufälliges Opfer einer Verbrecherbande geworden, die zufällig das Glück hatten, dass sie tausend Euro in bar bei sich führten?“

„Exakt.“, er wurde wieder locker.

„Und es hängen keine Drogen und Händlerrivalitäten damit zusammen? Oder Schulden bei wichtigen Leuten? Oder anderes womit sie wichtige Leute verärgert haben könnten? Und jetzt sind sie loyal und halten die Klappe? – Damit hat das ganze nichts zu tun ne’? Herr Rosner sie wissen schon, dass die Polizei eine Institution ist“, sie zeigte ihm den Zeigefinger, „und wir alle Zugriff haben, auf Akten zum Beispiel von Vorbestraften? Und oh Zufall gehören sie Glückspilz zu den vorbestraften Dealern, gerade einmal einen Monat aus der Bewährung raus.“

„Ich bleibe bei meiner Aussage.“, sagte er reserviert.

„Gut, er fängt an so zu sprechen. Sie wollen bestimmt ihren Anwalt?“, Limpa hackte sich ein.

„Die Angelegenheit soll ganz über ihn laufen. Am Ende bin ich hier immer noch das Opfer.“, er verschränkte sie Arme vor der Brust.

„Ja eben und wir wollen die Täter schnappen, aber ohne ihre Hilfe wird das eher schwer.“, versuchte ihm Limpa zuzureden.

„Bin ich die Polizei? Nein, also machen sie ihre Arbeit und ziehen mich da nicht rein.“

„Gute Besserung!“, Limpa und Val verließen sein Krankenzimmer, ohne seine Verabschiedung abzuwarten.

 

„Was für ein Idiot!“, sagte Val auf dem Krankenhausflur, Limpa stach sie dafür in die Seite, „Was denn? Stimmt doch?!“, Val packte den Notizblock in ihre Tasche.

Limpa ging einfach weiter, ohne darauf einzugehen.

 

Zurück im Revier gingen sie in die Kantine, es gab Geschnetzeltes, und setzten sich zu Gabi an den Tisch, der Zeitung las.

„Und was jibt et neues?“, Val knuffte seinen Oberarm.

„Was verdächtiges.“, er wandte den Blick nicht ab.

Val und Limpa guckten sich lachend an.

„Verdächtig also?“, hackte Limpa weiter nach.

„Und zwielichtig.“, führte Gabi weiter.

Val guckte vielsagend zu Limpa rüber. Jetzt brachen sie gänzlich in Gelächter aus.

„Hast du zu viele Krimis geschaut Gabi?“

„Schaut es euch doch selbst an, ihr Hühner!“

Val schob ihr Tablett zur Seite, nahm die Zeitung von Gabi an, räusperte sich und las: „Neuer Serienmörder in Ven-e-Venedig“, sie hob kurz ihren Kopf und schaute zu Limpa, „Seit nun schon einem Monat verschwinden junge Frauen in Venedig und wenige Tage später wird ihre Leiche in einer Kanalgasse angespült. Es sind junge, Alleinstehende und Alleinlebende, hübsche Frauen zwischen 18 und 30 Jahren. Ihre Leichen sehen immer anders aus, mal erstickt, mal erstochen und mal wurde ihnen schlicht das Genick gebrochen. Um Sexualstraftaten handelt es sich nicht, auch wenn die Frauen ausschließlich nackt angespült werden. Und auch wenn die Frauen unterschiedlich getötet werden, geht die italienische Polizei vom gleichen Täter aus, weil das restliche Vorgehen ähnlich ist. Bisher wurden fünf Frauen gefunden, man geht von weiteren Opfern aus. Die Polizei ist trotz mehrerer Leichen ratlos, man findet einfach keine Spuren, weder an den Fundorten noch an den Leichen – und natürlich hat niemand etwas gesehen. Jungen Frauen wird geraten abends unter keinen Umständen allein Unterwegs zu sein. Venedig als gefährlicher Touri-Hotspot, der neue Hobbykeller vom unsichtbaren Kölner? Wir halten sie weiter auf dem Laufenden.“, Valerie schluckte laut, „Wir müssen dahin Gabi.“

„Sehe ich auch so.“

„Aber wieso erfahren wir das über die Zeitung? Wieso kam man nicht intern auf uns zu?“

„Weil wir persönlich darin verwickelt sind.“, warf Limpa ein. Gabi und Val starrten sie an.

„Gabi vielleicht, mit seinem mutigen Besuch bei Kurat, aber was habe ich damit zu tun?“, gab Val wieder zurück.

„Ich erinnere dich nur ungern an deine nächtlichen Ausflüge in den Wald Valerie, ein Wunder, dass sie dich nicht auf der Stelle suspendiert haben.“

„Ich habe damit aber Kurat gefasst.“

„Hat den fünf toten in Venedig wenig gebracht.“, bemerkte Gabi spitz.

„Na und wenn schon, wir haben ein Recht darauf es erfahren und selbst vor Ort zu ermitteln.“

„Italien ist nun wirklich nicht unser Zuständigkeitsbereich.“, sagte Limpa.

„Wir können den Beamten mit unserer Erfahrung helfen.“, Val nickte zu Gabi und suchte seine Zustimmung.

„Weil wir ihn hier so gut fassen konnten.“, sagte Limpa.

„Hey wir waren ihm auf den Fersen, red‘ doch nicht alles schlecht. Ich geh hoch und frag mal nach, ob nicht Herr Carnot und ich eine Geschäftsreise machen könnten. Oder willst du ihn nicht kriegen?“

„Versuch dein Glück.“, er zuckte mit den Schultern.

„Ich brauch kein Glück, mich mag er.“, Val schob den Stuhl an den Tisch und machte auf dem Absatz kehrt.

 

„Denkst du das ist eine gute Idee?“, fragte Limpa Gabi.

„Nein natürlich nicht, aber wir machen das trotzdem, damit sie abschließen kann.“

„Denkst du das ist der unsichtbare Kölner?“

„Wohl eher der unsichtbare Touri. Aber ja ich glaube das ist der Mistkerl.“

„Warum tut er es so auffällig?“

„Um geschnappt zu werden. Das wollen die verrückten alle. Also eigentlich wollen sie Aufmerksamkeit.“, er zuckte mit den Schultern und aß weiter.

Limpa lehnte sich zurück, ihre Augen wirkten abwesend, wie durch einen Schleier. Sie dachte nach. Kam aber zu keinem Schluss.

 

Nach einer Stunde kam Valerie zurück ins gemeinsame Büro von ihr und Olimpia, die starrte wieder aus dem Fenster. Valerie kam rein, aber Limpa reagierte nicht. Sie öffnete noch mal die Tür und schloss sie diesmal etwas lauter. Limpa drehte sich um.

„Und?“, fragte sie, als wäre nichts.

„Gabi und ich fliegen morgen nach Venedig.“

„Und lasst mich allein.“, stellte sie nüchtern fest, versuchte sich aber noch durch ein kleines Lächeln zu retten und sich nicht allzu sehr anmerken zu lassen, wie sehr sie das mitnimmt.

„Du bist freigestellt.“, sagte Valerie ernst, Limpas Mundwinkel gingen schlagartig runter.

„Freigestellt? Was?“, sie stütze die Hände auf den Tisch.

„Du solltest dich ausruhen, vielleicht zur Therapie gehen. Es ist schon lange überfällig.“, Val hielt sich an der Tür fest, als hätte sie Angst das Gleichgewicht zu verlieren.

„Auf wessen Anweisung?“, ihr linkes Auge zuckte.

„Helmut Weißner.“

„Wie kam er da jetzt drauf?“

„Er hat mich gefragt, wie es dir geht und ich habe geantwortet.“

„Mit welchem Recht tust du das?“

„Ich habe lediglich meine Meinung gesagt.“

„Deine Meinung?! Und wie lautet die?“

„Das du psychisch und körperlich erschöpft bist, hier auf Arbeit überfordert, mit niemanden redest und dich nicht um dich kümmerst.“

„Sag mal spinnst du?“

„Was denn? Ich habe es dir zu liebe getan. Du wirst mir noch dankbar sein.“

„Im Leben nicht. Du nimmst mir das einzige was ich noch habe.“

„Die Arbeit sollte nie das einzige sein was du hast. Du bist schon in deinen Dreißigern, du solltest eine Familie haben.“

„Meine Kollegen sind meine Familie.“

„Die sollten aber nicht deine einzige Familie sein.“

Limpa war jetzt richtig wütend: „Das hast du nicht zu entscheiden! Wie kannst du mir das antun! Mich so demütigen!“

„Limpa! Das ist doch kein Zeichen von Schwäche. Du bist auch nur ein Mensch. Gönn dir doch mal wirkliche Erholung. Bitte! Es wird dir besser gehen.“

„Es wird mir gar nicht besser gehen!“

„Limpa hör auf! Du tust doch nichts auf der Wache. Du sitzt hier doch nur rum und starrst aus dem Fenster und machst ab und zu die Ablage und Papierkram. Wäre Gabi heute nicht reingekommen, hättest du keinen Fall. Und allein schaffst du den gar nicht. Bitte sei vernünftig! Ich will nur das Beste, glaube mir.“, Val ging auf sie zu und wollte ihr die Hand auf die Schulter legen, Limpa schnaubte und drehte sich beleidigt zum Fenster.

 

Derweilen ging Adam in der Stadt spazieren und lächelte. Er kam gerade von seinem neuen Atelier, welches nicht gleichzeitig seine Wohnung war. Es war schön das Arbeit und Privates an zwei getrennten, sicheren Orten waren. Er mietete eine kleine Dachgeschosswohnung von einer alten Frau, die im Erdgeschoss wohnte, die meiste Zeit am offenen Fenster, auf die Ellenbogen gestützt. Das Atelier hatte ihm sein Onkel von seinem Bekannten besorgt – es war eine kleine, dunkle, leere Kammer. Adam ließ das Fenster vergrößern und richtete sich mit seinem Equipment ein. Es war zwar noch keine Ausstellung geplant, aber die Kunstszene in Venedig bekam natürlich mit, dass der berühmte Adam aus Deutschland in seine Heimat zurückgekehrt ist und drängelten ihn schon die ganze Zeit dazu seine Bilder zu zeigen. Doch er ließ sie zappeln. Kostete die Euphorie aus. Er hatte sich großen Namen gemacht.

 

Nach dem großen Streit mit Limpa ging Valerie nach Hause und packte ihren Koffer für die Geschäftsreise nach Venedig. Sie hatte große Hoffnung den unsichtbaren Kölner dort zu fangen. Sie beschloss einfach, dass er es war. Ihr Gefühl sagte es ihr. Am nächsten Morgen traf sie Gabriel im Flughafen Köln/Bonn.

„Gut geschlafen du Spürhund?“, neckte er Valerie, die noch ganz verschlafen war.

Sie knurrte.

„Noch zu früh?“, Gabi lachte.

 

Limpa saß auf ihrer Bettkante und überlegte was sie machen sollte. 5.37 Uhr. Sie war freigestellt, sie könnte sich nochmal hinlegen und nichts Schlimmes würde passieren. Fürs Erste war sie vier Wochen freigestellt. Sie könnte aber auch wieder ins Krankenhaus zu Rosner und ihn selbst ausquetschen, mit Valerie hat er eher nicht kooperiert. Valerie… die blöde Nuss. Aber was würde sie danach tun? Danach hatte sie immer noch vier Wochen Zeit rum zu kriegen. Sie könnte irgendwo in den Urlaub fahren, wo es jetzt heiß ist oder in irgendein Wellness Hotel in Düsseldorf. Sie könnte auch ihre Mutter besuchen oder mal wieder richtig Einkaufen und kochen, seit Wochen frisst sie nur noch Tiefkühlscheiß – Adam hatte sie mit seinem italienischen Essen verwöhnt. Adam… was er jetzt wohl macht? Sie fragte sich, ob er noch an sie denken würde. Schließlich entschloss sie sich nochmal hinzulegen, was die eigentliche Entscheidung nur herauszögerte.

 

In Venedig angekommen richteten sich Valerie und Gabriel in ihren Zimmern in einem schäbigen Hotel ein und machten sich direkt auf den Weg zur Wache. Man brachte sie auf den neusten Stand der Ermittlungen, die nicht viel anders aussahen als der Zeitungsbericht. Man zeigte ihnen Bilder der Opfer. Die Forensiker vermuteten, dass er sie in einen geschlossenen Raum führte und sie dort tötete, dann lässt er sie für einige Stunden dort und wirft sie im Morgengrauen in den Kanal, wo sie relativ schnell gefunden werden. Es ist sehr rätselhaft, dass ihn niemand dabei sieht, deswegen denkt man, dass er sie aus diesem geschlossenen Gebäude entweder durch die Hintertür oder sogar durchs Fenster wirft. Alles um die Fundorte herum wurde abgesucht, aber man fand nichts – zudem sind die Fundorte auch quer in der Stadt verteilt. Man hat sogar schon Interpol eingeschaltet und die italienischen Kollegen wirkten froh, über die Unterstützung der deutschen Beamten. Allesamt sind ratlos, wie genau er vorgeht und wie er es schafft an alles zu denken und warum er so ein verdammt großes Glück zu haben scheint.

Valerie begutachtete alle Berichte und Fotos, die die italienischen Kollegen gesammelt haben. Sie ging auch noch die alten Berichte von Limpa und ihr durch. Im letzten Jahr hat der unsichtbare Kölner und jetzt der unsichtbare Touri mächtig für Chaos gesorgt. Der unsichtbare Tourist – so verspottet die italienische Presse ihn und die Polizei – die unsichtbare Polizei sagen sie. Valeries Jagdinstinkt ist wieder geweckt. Sie will ihn schnappen. Dieses ekelhafte, perverse Morden soll aufhören.

Gabriel ist mit den einheimischen Beamten in die nächste Bar gezogen, nur Valerie ist noch geblieben und sah zum zich hundertsten Mal die Dokumente durch. Sie schrieb Olimpia gegen zwölf eine Mail, in der sie sich entschuldigte und erzählte, dass sie kein Stück weitergekommen sind. Valerie war wieder wie besessen, bereit sich wieder in irgendeinen Busch zu werfen und wochenlang zu warten, dass er aufkreuzt, um ihn auf frischer Tat zu ertappen. Nur diesmal hatten sie keinen Anhaltspunkt, er besann sich diesmal nicht auf das Stadtzentrum und diesmal war auch kein Wald in der Nähe – deswegen auch die Leichen. Er hatte seine Taktik geändert. Wie soll man ihn da kriegen, wenn er einfach wieder seine Taktik ändern kann? Dann sind alle gesammelten Indizien nutzlos.

 

„Valerie?! Du hast jetzt nicht im Ernst, wie in einem billigen Krimi hier im Büro geschlafen?“, Gabi kam rein – in einer Hand einen Kaffee in der anderen eine viel zu gutaussehende, große, lachende, italienische Polizistin.

„Valerie!!“, er schüttelte sie.

„He! Lass mich.“, sie nahm sich ein Foto von der Wange, was wohl über Nacht dort festgeklebt ist, wischte sich den Schlafspeichel vom Mund und brachte ihre Haare in Ordnung, die in alle Richtungen standen.

„Valerie, haben sie dich aus dem Hotel geschmissen? Oder hast du den Weg vergessen?“, er lachte herzlich und seine Begleitung mit ihm, obwohl sie offensichtlich nichts verstanden hat. Valerie starrte ihn für einen kurzen Moment entsetzt an und verließ die Wache dann ohne ein Wort zu sagen. Gabi schrie ihr noch hinterher, aber sie blieb nicht stehen.

 

Es war ein wunderschöner sonniger Tag im Februar. Einige Leute trieben sich auf den Straßen rum. Es war Wochenmarkt. Valerie ging ohne Umwege direkt ins Hotel und nach einer heißen Dusche und drei kleinen Kaffee ging sie grübelnd durch die Stadt. Was wenn ich hätte zu Hause bleiben sollen? Mich um Limpa kümmern. Und was fällt diesem Idioten Gabi eigentlich ein, mich so zu demütigen und mit dieser als Polizistin verkleideten Nutte aufzukreuzen? Sie stand wieder vor der Wache und überlegte, ob sie wieder reingehen sollte. Gerade wollte sie wieder kehrt machen, als Gabi sie aus dem Fenster entdeckte und zu ihr eilte.

„Valerie! Bitte bleib stehen! Warte! Ich habe mir Sorgen gemacht.“, er sprintete die Treppen runter.

„Welche Sorgen?“

„Nicht das es wieder so wird, wie im Herbst letztes Jahr.“

„Was geht dich das an?“, sie wich vor Gabi zurück, der sie am Arm packen wollte.

„Ich dachte wir sind Partner.“, er ging wieder auf sie zu.

„Partner lassen einen nicht einfach allein.“, sie schnaubte.

„Soll ich dich in Zukunft also noch ins Bett bringen?“

„Du weißt was ich meine.“

„Ja.“, er schaute auf den Boden.

„Du nimmst die Sache überhaupt nicht ernst.“

„Es tut mir leid.“

„Wir sind hier nicht zum Urlaub machen.“

„Ich weiß. Verzeih mir.“

„Gibt es was neues?“, sie wandte sich ihm wieder zu.

„Ja, ich habe Pause. Lass uns was Essen gehen.“

„Wo ist dein Ernst geblieben?“

„Das können wir beim Essen besprechen.“

Sie gingen zu einem Restaurant und unterhielten sich weiter über die Arbeit, sie gingen durch kleine Gassen und am Kanal entlang, über Brücken, über Plätze, die Kirchenglocken läuteten – Mittag. Valerie stieß gegen einen Mann, es war Adam. Er entschuldigte sich für das Missgeschick und wollte gerade weiter, als Valerie ihn von Limpas Fotos wiedererkannte – „Adam? Bist du es? Hallo, ich bin eine Freundin von Limpa.“

„Si, welch eine Überraschung“, sagte er mit leichtem Akzent.

„Ist die Welt nicht klein!“, warf Gabi ein, „Ich bin Gabriel. Valeries“, er zeigte auf sie, „und Limpas Kollege.“

„Schön sie mal kennen zu lernen. Was treibt sie nach Venedig? Und wie geht es Limpa?“

„Limpa geht es gut, ja sehr gut. Viel Arbeit. Und wir sind auch wegen Arbeit hier.“, sagte Valerie knapp.

„Arbeit also. Alles geheim?“

„Nein steht doch alles in der Zeitung, der unsich- aua.“, Valerie stieß ihn mit dem Ellbogen.

„Gabriel – wir dürfen nichts sagen.“, sie lächelte bemüht, „Nichts gegen dich Adam, aber so sind die Vorschriften.“

Er hob die Hände und wedelte herum: „Nein, nein ich versteh schon. Ich wollte sie nicht in Verlegenheit bringen.“

„Keineswegs.“, sagte Valerie, „Wir müssen jetzt leider wieder weiter – sie wissen ja – die Polizei schläft nicht.“

„Ja mit Sicherheit! Ciao Bella!“

„Ciao, ciao!“

Gabi winkte und lächelte ihm noch nach.

„Bist du bescheuert? Mach die Hand runter!“, sie haute ihm die Finger.

„Das war also Limpas Ex. Toller Typ. Aber was hattest du denn? Hab dich noch nie so unlocker erlebt. Richtig peinlich. Und die Polizei schläft nicht? Was sollte das?“

„Keine Zeit für sowas.“, sie zerrte ihn weiter über den Platz.

„Val, komm sag schon!“

„Ich finde ihn komisch. Er ist mir nicht geheuer.“

„Du redest doch quatsch. Du kennst ihn einfach nicht.“, Gabi lachte.

„Nein, an ihn ist etwas Sonderbares, dafür muss ich ihn nicht kennen. Er hat sich sehr verdächtig verhalten. Kaum hatte er Olimpia kennen gelernt, hatte er sie in seinem Bann. Sie war nur noch bei ihm. Überall. Seine Muse. Und dann wird er plötzlich so komisch, verschwindet, Stimmungsschwankungen, malt seine Bilder nicht mehr zu Ende und behandelt Limpa total schlecht, die ja wirklich alles für ihn getan hat, und zu guter Letzt verlässt er sie einfach – und geht nach Italien zurück? Einfach so. Sie meinte, er hätte nie darüber gesprochen zurück zu kehren.“

„Valerie, Künstler kann man nicht verstehen. Die sind eben, wie du sagst, sonderbar. An seinem Verhalten ist nichts komisch. Ja dann hat er Limpa nichts von seinen Italienplänen erzählt, vielleicht hat er ihr nicht vertraut und sich deswegen getrennt, weil es nur so ne kurze lockere Sache war.“

„Zieht man bei einer lockeren Sache nach dem zweiten Date direkt zusammen?“

„Ja, er fühlt eben intensiv. Vielleicht hat er auch was Hypnotisches auf Limpa, war wahrscheinlich das einfachste für ihn mit ihr zusammen zu ziehen, so sieht man sich mehr. Weiß nicht. Aber so wild Vermutungen anzustellen ohne Grund, ist doch bescheuert.“

Valerie zuckte mit den Schultern, „Mag sein, mag alles sein, aber ich habe trotzdem kein gutes Gefühl bei der Sache.“

„Du hörst dich schon so an wie in einem billigen Krimi. Kein gutes Gefühl! Kein gutes Gefühl!“, er äffte sie nach.

„Ja aber am Ende haben sie doch immer Recht.“

„Und vor allem was soll Adam schon angestellt haben? Sich von Limpa getrennt zu haben, ist nicht verboten und der erste ist er sowieso schonmal gar nicht. Klar sie hat etwas Besseres verdient, aber daran ist nichts sonderbar.“

„Nein das meine ich nicht. Es ist natürlich etwas was wir nicht wissen. Ein Geheimnis.“

„Adam hat ein dreckiges Geheimnis? Er ist ein erwachsener Mann, der vermutlich viel erlebt hat, mit Sicherheit hat er Geheimnisse. Und die gehen uns nichts an.“

„Ja das stimmt. Es geht uns nichts an.“

„Endlich konnte ich dich zur Vernunft bringen. Komm wir gehen essen.“

 

Ein dunkler Nadelwald. Die Sonne ging gerade auf. Es war neblig und feucht. Die Vögel zwitscherten nicht. Limpa ging durch das karge und doch schwer überwindbare Gestrüpp. Sie hatte das Gefühl, als würde sie durch Widerstand gehen, sie konnte sich nur ganz langsam fortbewegen, sowie wenn man gegen den Wind geht. Ihr Körper fühlte sich tonnenschwer an. Und doch wollte sie unbedingt weiter, sie hatte ein Ziel – eine Stimme. Sie wollte zu der Stimme, die sie rief. Eine bekannte Stimme rief süßlich ihren Namen. „Limpa, Limpa.“, ertönte es immer wieder leise. Doch auch am Ende des Traumes konnte die Kommissarin die warmklingende Stimme nicht erreichen. 10:51 Uhr. Limpa hatte Kopfschmerzen. Zu lange geschlafen – das soll ja bekanntermaßen auch nicht gesund sein. Sie machte sich einen Kaffee und setzte sich an den Küchentisch mit dem Blick aus dem Fenster. „Was für ein absurder Traum.“, dachte sie, „Ich habe schon monatelang nichts geträumt und dann das.“

Nach ihrem Frühstück war es schon fast zwölf und der Himmel klärte auf, sie beschloss joggen zu gehen, wie sie es früher immer gemacht hatte.

 

Es war der Sonntag nach Valentinstag. Es war noch früh, sehr kalt, dennoch sonnig. Ein Gondoliere wollte gerade seine Schicht beginnen und fuhr in den Kanälen herum – bis ihm etwas in der Ferne auffiel. Eine Hand ragte aus dem Wasser, an ihr ein glitzerndes Diamantarmband. Zuerst dachte er es wäre nur eine Schaufensterpuppe oder halt ein Teil davon, aber das Armband glitzerte so stark – dass er sich dachte, wie könnte jemand so etwas wegschmeißen. Er bewegte seine Gondel auf die Hand zu. Er erblickte jetzt auch einen Hinterkopf, die Puppe hatte langes braunes Haar. Er kam immer näher. Die leichten Wellen, erzeugt durch die Gondel schlugen am Steg nieder. Die Puppe bewegte sich leicht auf und ab. Bis auf das Armband war sie nackt. Alessandro, der Gondoliere, griff nach der Hand der Puppe – die Hand fühlte sich nicht nach der einer Schaufensterpuppe an – nicht hart und glatt – sondern wie Haut, er fühlte genauer. Zunächst leicht weggedreht, zog er die Hand etwas nach oben und blickte schließlich auf eine tote Frau. Er rief die Polizei, welche mit mehreren Booten und Blaulicht anbrausten. In einem von ihnen Valerie Topika und Gabriel Carnot. Bei nackten, toten, jungen Frauen im Wasser klingelten alle Alarmglocken. Auch dieses Opfer schrieb man dem ehemals unsichtbaren Kölner zu. Diesmal hatten die Beamten Glück. Die Leiche war noch nicht lange im Wasser, höchstens zwei-drei Stunden und Tod war die Frau auch erst zwölf Stunden. Irgendwo hier treibt er sich rum. In der Nähe des Palazzo Grassi. Die Leiche fand man direkt im Canal Grande, wo sich auch viele Touristen rumtreiben, wahrscheinlich nicht um diese Uhrzeit, aber nichtsdestotrotz – wie konnte ihn niemand gesehen haben? Die Polizei blieb dabei – er muss die Leichen aus einem Gebäude werfen, nur so sieht ihn niemand. Wie immer gibt es keine Spuren. Valerie saß im Polizeiboot und war entmutigt – sie sind ihm so Nah – zwei Stunden entfernt und doch so fern.

„Valerie kommst du?“

„Gibt’s was neues?“, sie blickte auf.

„Nein, ich dachte nur…“

„Was dachtest du?“

„Nun … ich will nicht, dass du allein bist.“, er wusste wie sehr sie dieser ungeklärte Fall mitnahm.

„Vielleicht ist das gerade besser so.“

„Komm lass uns arbeiten.“

„Was soll das bringen?“

„Was? Komm wir schauen uns in der Gegend um, was es hier so Verdächtiges gibt. Verräterische Gebäude, die nach einem Durchsuchungsbefehl schreien. Komm schon!“, er griff sie am Arm, sie erhob sich. Gemeinsam fuhren sie, mit Alessandro, durch den Canal Grande und blieben an jedem Haus stehen und fuhren dann auf dem Rückweg in einige Abzweigungen hinein. Eine Tür eines Wohnhauses ging auf und heraus kam Adam.

„Adam alter Freund.“, rief Gabriel laut und winkte energisch.

„Siehst du“, flüsterte Val.

Adam zuckte kurz zusammen, doch fing sich schnell wieder und setzte, wie mechanisch ein breites Lächeln auf: „Buongirono Raggazzi! Romantische Gondelfahrt?“

„Nein, wir arbeiten.“, antwortete Gabi.

„Das ist aber eine entspannte Arbeit, die ihr da macht.“, er lachte.

„Hast du es noch nicht mitbekommen?“, Gabi war verdutzt.

„Was denn?“

„Nun ja, es wurde eine Leiche gefunden. Nicht weit von hier. Beim Palazzo Grassi, vor etwa drei Stunden. Wir fahren die Gegend ab.“

„Ach was. Wie schrecklich. War es wieder dieser Serienmörder?“

„Vermutlich. Sag mal Adam, wohnst du hier?“

„Ja. Ich wollte auch gerade zur Arbeit.“

„Ach wie schön. Sollen wir dich mitnehmen?“, Valerie war nicht begeistert von Gabis herzlicher Art gegenüber Adam.

„Nein, nein. Ich will keine Umstände machen.“

„Quatsch, wir fahren sowieso wahllos umher, ohne zu wissen was wir suchen. Zeig uns dein Reich. Du bist ein berühmter Künstler und Valerie steht total auf Künstler. Nicht wahr? Wir wollen es uns ansehen.“

Valerie nickte, die Augen verdrehend.

„Na gut.“, er stieg umständlich ein.

Sie fuhren nicht weit. Sein Studio war nur einige Minuten entfernt.  Adam, Gabi und Val stiegen ab und ließen Alessandro weiter.

 

Adams Studio war recht klein. Es bestand aus nur zwei Zimmern. In dem einem, dem vorderem standen die fertigen Bilder auf dem Boden an die Wand gelehnt. Das hintere Zimmer war um einiges heller, durch das zusätzliche Fenster. In der Mitte standen einige Stative mit Leinwänden, auf einigen war ein angefangenes Bild zu sehen, einige waren noch weiß und unschuldig. Der Boden war mit Farbe bekleckert und viele offene Farbtöpfe und Pinsel standen rum. Aber viel konnten Valerie und Gabriel nicht erkennen, durch die offene Tür, Adam ließ sie nur ins Vorderzimmer.

„Du hast doch auch eine sehr schöne Arbeit Adam.“, bemerkte Valerie.

„Si, das ist wahr.“, Adam nickte zustimmend.

„Es war sehr nett von dir uns die Bilder zu zeigen. Danke. Aber wir müssen jetzt gehen.“, sie führte Gabi an der Schulter raus.

„Prego. Wir sehen uns.“, er öffnete ihnen die Tür.

 

Valerie und Gabi saßen in einem Wassertaxi und fuhren wieder zurück zur Wache.

„Und hast du Adams Geheimnis gelüftet? Mussten wir unsere Zeit unbedingt damit verschwenden? Wir jagen hier einen Serienmörder und nicht Limpas Ex.“

„Ich fands aufschlussreich.“

„Ach ja? Dann mal nur her mit deinen Aufschlüssen. Ich bin noch ganz ratlos.“

„Nun, er ist ein Mitteloser Künstler in Venedig. In Deutschland hatte er Geld, Ruhm und Erfolg. Vor irgendwas läuft er weg.“

„Schau doch wie viele Bilder er schon hat! Der Erfolg wird kommen. Und das Geld aus Deutschland hat er ja noch. Vielleicht will er bescheidener sein.“

„Ja aber wieso der Neuanfang?“

„Valerie, Adam ist nicht unser Fall. Wieso bist du überhaupt nach Venedig gekommen? Erinnere dich!“

 

Auf der Wache angekommen vergrub sich Valerie in die Berichte und Unterlagen vom heutigen Mord, Gabi hatte recht, sie musste ihre Aufmerksamkeit wieder dem wirklich Wichtigem zuwenden. Ein Kollege kam auf sie zu, als er sie am Tisch gesehen hatte, in den Händen einen gewöhnlichen Brief. Er sagte auf Italienisch: „Für dich. Streng vertraulich.“

Auf dem Brief stand ihr Name, die genaue Adresse der Wache und in Rot geschrieben „Nur vom Adressaten zu öffnen – streng vertraulich“. Valerie blickte um sich, niemand beachtete sie. Also öffnete sie den Brief. Und schluckte laut, als sie anfing zu lesen:

 

            Kommissarin Topika,

ich bin das Katz-und-Maus-Spiel satt. Natürlich hätten Sie den Fall lieber selbst gelöst, aber lassen Sie mir doch die letzte Genugtuung, Sie in meiner Hand zu haben – denn Monate tun Sie schon genau das, was ich von ihnen erwarte, dennoch bin ich beeindruckt von ihrer Arbeit. Ich respektiere Sie und deswegen will ich ihnen die Möglichkeit geben, mit mir zu reden und auch mir würde ein Gespräch mit Ihnen sehr gefallen. Die aktuelle Situation zwingt mich zu dieser Maßnahme – Sie sind zu nah – ich ergebe mich. Erzählen Sie keiner Menschenseele vom Brief oder, dass Sie sich mit mir treffen werden, denn diese Gelegenheit werden Sie sich im Leben nicht entgehen lassen. Sie kommen allein und unbewaffnet. Morgen um 22 Uhr Ponte di Rialto.

Ich verbleibe als ihr unsichtbarer Kölner

 

Valerie war fassungslos. Wieder blickte sie sich um. So als würden alle um sie gemerkt haben was sie das gerade gelesen hat. Doch jeder war mit seinen eigenen Angelegenheiten beschäftigt. Sie machte den Kollegen ausfindig, der ihr den Brief gegeben hat und fragte wann der Brief abgegeben wurde. Der Kollege sagte, dass ein Mann den Brief kurz vor zwölf vorbeibrachte.

„Da waren wir noch am Tatort“, dachte Valerie. Sie machte große Augen und ging zu ihrem Schreibtisch, ohne ein Wort zu sagen. Regungslos saß sie dort einige Stunden. Gabi kam auf sie zu: „Wollen wir Feierabend machen?“

„Du begleitest mich doch, oder?“

„Hast du Angst?“, er runzelte die Stirn.

„Frauen sollen doch nachts nicht mehr allein raus.“

„Natürlich begleite ich dich, wir wohnen im selben Hotel, in Nachbarzimmern.“

„Ja sonst gehst du ja immer schon viel früher.“

„Du willst doch nie früher gehen. Ist alles in Ordnung?“

„Ja“, sie schüttelte sich, „nur erschöpft.“

„Komm wir gehen. Darfst dich sogar einhacken, wenn du so Angst hast.“

 

Sie schlenderten zum Hotel. Valerie klammerte sich an Gabriel und ließ ihn nicht eine Sekunde los. Im Hotel fragte er sie, ob wirklich alles in Ordnung sei und Valerie wiederholte abermals, dass alles gut sei. Zum Abschied küsste sie ihn auf die Wange.

Am nächsten Tag kam sie erst spät zur Arbeit und ging auch schon früh. Sie ging ins Hotelzimmer und bereitete sich vor. Duschte sich, schminkte sich, zog sich was Frisches an und ging schon Stunden vor der vereinbarten Zeit zum Treffpunkt. Sie war so nervös, sie konnte nichts anderes tun, außer zu warten. Einige Leute trieben sich auf der Brücke rum, machten Fotos, redeten, küssten sich, schauten ins Wasser. Und dann schlug die Uhr 22 Uhr und nah hinter sich spürte sie jemanden atmen. Er flüsterte: „Nicht umdrehen!“

Es durchfuhr sie ein Blitz durchs Mark. Sie wusste sofort wer es war. Ihre Augen flogen nach links und rechts, sie überlegte ihren nächsten Schritt.

„Schick sehen sie aus Kommissarin. Etwa für mich?“

„Mir ist bewusst, dass ich sterben kann und ich wollte schön sterben, falls es heute sein wird.“

„Kluges Köpfchen. Sie haben bestimmt einige Fragen. Ich bin bereit.“

„Werden Sie ihr Geheimnis verraten, wie Sie die Spuren vernichten?“

„Ich hinterlasse erst keine.“

„Verstehe. Sag mir dann eins Adam, wie konnte Limpa von deinen nächtlichen Ausflügen zurück in Köln nichts mitbekommen? Du musst doch die ganze Nacht weg gewesen sein?“

„Ich habe sie betäubt. Jeden Tag kochte ich und mischte starkes Schlafmittel unter, genauso dosiert, dass sie am nächsten Morgen nicht müde war.“

„Du bist mir zu wieder.“

„Waren das alle Fragen?“, er packte sie an der Taille.

„Warum liebt dich die Presse?“

„Ich habe dort einige Freunde.“

„Pervers.“

Er amüsierte sich und verstärkte seinen Griff. Valerie wusste ganz genau, dass das nur eine Falle von ihm war und er niemals aufgeben würde, es würde schon reichen, wenn er sie aus dem Weg räumte.

„Warum tötest du?“, Valerie versuchte ein klein wenig Zeit zu schinden, um zu überlegen.

„Es energetisiert mich, wenn ich sehe wie das Leben aus ihren Augen verschwindet. Es gibt mir das Gefühl von Macht und Überlegenheit, verstehen Sie. Ich habe die Kontrolle über ihr Leben. Es ging mir nicht ums Vergewaltigen, das habe ich nie getan. Es ging immer nur darum zu sehen, wie sie das letzte Fünkchen Leben aushauchen.“

„Nein, ich verstehe es nicht. Du bist abartig.“

„Wenn Sie das sagen.“

„Eine Frage habe ich noch.“

„Ich bin ganz Ohr.“

„Warum Venedig?“

„Sie müssen wissen, Kommissarin Olimpia war mir sehr wichtig. Ich wollte nicht, dass sie in der Nähe ist, wenn alles hoch geht. Wenn alles schief geht, sollte sie in Sicherheit sein.“

Und während er ihr sein Herz öffnete, drehte sich Valerie ganz langsam zu ihm um, legte ihre Hand auf seine, welche er auf ihrem Rücken hatte. Sie packte fest zu, als er fertig gesprochen hatte und riss seine Hand ruckartig hinter seinen Rücken, sie tat dies so fest, dass seine Schulter fast auskugelte. Er schrie vor Schmerzen und ging zu Boden. Kommissarin Valerie Topika verhaftete Adam Coppola am 18. Februar 2019 auf der Ponte di Rialto.

 

„Olimpia?“, Valerie rief Limpa mitten in der Nacht an.

„Hallo Valerie? Was ist denn so spät noch?“, sie rieb sich die Augen.

„Olimpia, wir haben ihn. Ich habe ihn heute verhaftet.“

„Wen? Nicht etwa den unsichtbaren Kölner?“

„Der unsichtbare Kölner ist Adam.“

krimi zwischendurch – kapitel 8: erster klarer blick

„Der unsichtbare Kölner – der Polizeiskandal 2018“ titelte die Bild.
Durch anonyme Quellen fanden wir heraus, dass uns die Polizei die ganze Zeit an der Nase herumgeführt hat: Dass der angeblich gefasste Serienmörder, der zehn junge Frauen, welche nur höchstens achtundzwanzig Jahre alt waren, getötet hat, in Wirklichkeit immer noch auf freiem Fuß ist. Ganz richtig gehört – er läuft immer noch frei rum – der momentan Gefasste ist mutmaßlich ein Trittbrettfahrer und psychisch krank. Sein selbst gewählter Name ist Kurat, was auf isländisch Teufel heißt – passend oder?
Die Polizei hielt diese Information noch zurück um erneute Panik vorzubeugen, so der offizielle Grund (den man angegeben hätte, hätte man sich überwunden die Pressemitteilung zu veröffentlichen). Viel mehr scheint es so, als wollten sie ihre vorschnelle, inkompetente Festnahme so lange wie möglich vertuschen. Raus gekommen ist der Fehler nämlich erst nachdem Kurat festgenommen wurde und nachdem! die erste Pressemitteilung rausging, erst dann wurden seine Fingerabdrücke und eine DNA-Probe entnommen. Man muss zugeben es bestand auch kein Grund zum Zweifel, da er bei frischer Tat erwischt wurde und die Morde auch alle brav gestanden hat. Nun als die Ergebnisse reinkamen – kam auch der Schwindel raus und auch das gestand Kurat. Doch wie genau er in die ganze Sache verwickelt ist und ob er Kontakt zum echten unsichtbaren Kölner hatte oder schließlich doch
nur ein Trittbrettfahrer ist ist zu diesem Zeitpunkt noch unklar.

„Leute was machen wir jetzt mit dem Scheiß?“, fragte Limpa auf die Leinwand zeigend, auf der der Artikel abgebildet war.
„Anonyme Quelle?! Die meinen wohl eher eine Ratte aus der Polizeistation!“, rief Gabi in die Runde, er kam zuletzt in die kurzfristig einberufene Sondersitzung.
„Aber wem von uns würde das auch nur das entfernteste bringen?“, fragte einer der Kollegen aus der letzten Reihe.
„Ach für Geld macht man so einiges.“, feuerte Gabi zurück.
„Also willst du sagen ein Beamter hat für Geld die Polizei verraten?“
„Wenn die Summe groß genug ist und die Moral niedrig genug – ja warum denn nicht?!“
Großes Gemurmel breitete sich im Konferenzraum aus.
„Liebe Kollegen! Ich bitte euch!“, Limpa versuchte für Ruhe zu sorgen, „Lasst uns lieber überlegen wem dieser Skandal wirklich nützlich ist. Ich bin mir ziemlich sicher, dass niemand von uns so etwas tun würde. Außer Gabi du hast tatsächlich Beweise für deine wilde Theorie – wir sind hier immer noch bei der Polizei.“
„Wer wusste denn alles über Kurat Bescheid?“
„Nur wir die in diesem Raum sitzen, der echte und der falsche unsichtbare Kölner und der Anwalt.“, antwortete Limpa auf Gabis Frage.
Kurze Stille. „So da haben wir es doch! Nur den drei letztgenannten würde die Information an der Öffentlichkeit etwas nützen.“

„Ja aber was genau nützt es ihnen?“

„Chaos – denke ich. Uns als unfähig darstellen, das macht die Presse doch eh am liebsten. Einfach für Unruhe sorgen.“

„Ja das sind die Folgen des Artikels aber was ist der benefit für sagen wir zum Beispiel Kurat?“, hackte Valerie nochmal nach. Erneutes Gemurmel.

„Keine Ahnung. Kurat sieht nicht für mich eh nicht wie einer aus, der für das was er tut gute Gründe braucht. Ich denke, dass er uns damit ärgern kann, reicht schon.“

„Was ist wenn wir was übersehen?“

„Was denn Valerie? Was übersehen wir?“

„Wenn ich das wüsste würden wir es ja nicht übersehen.“

„Vielleicht übersehen wir ja auch nichts und du interpretierst zu viel da rein.“

„So finden wir den echten unsichtbaren Kölner nie.“
In diesem Moment klopfte es an der Tür und der neue Auszubildende Tobi steckte den Kopf in den Raum: „Kommissarin Wolf jemand dringendes wartet auf sie in ihrem Büro. Er sagte sie wüssten Bescheid.“
„Gar nichts weiß ich. Hat er sich vorgestellt?“
„Nein.“
„Und nachfragen wäre ja auch nicht die Aufgabe eines Polizeiauszubildenen?!“
„Tut mir Leid.“
„Na gut. Wir waren eh so weit schon fertig. Wir lassen uns von diesem Blödsinn nicht spalten. Es ist zwar nicht durch unsere Pressestelle an die Medien gelangt, aber jetzt ist es zumindest raus. Karsten du fragst freundlich beim Anwalt nach und die anderen: Ran an die Arbeit in der Stadt läuft buchstäblich ein Serienmörder rum.“
Mit diesen motivierenden Worten verließ Limpa den Konferenzraum und machte sich auf den Weg zu ihrem Büro. Sie fragte sich welcher mysteriöse Mann sie aufsuchte, vielleicht stellt sich ja der unsichtbare Kölner freiwillig, weil er keine Lust auf einen Trittbrettfahrer hat. Sie musste schmunzeln.

„Was machst du denn hier?“, platzte es aus ihr heraus als sie Adam gemütlich in ihrem Sessel sitzen sah.
„Auch schön dich zu sehen.“, waren die ersten Worte die sie von ihm nach Wochen zu hören bekam.
„Adam ich arbeite. Ich hab keine Zeit für so was. Hättest du nicht anrufen können? Oder mich zuhause besuchen können?“
„Ich muss meinen Flug erwischen, aber ich wollte vorher noch persönlich mit dir reden, anders ging es nun mal nicht.“
„Flug? Wohin?“
„Venedig. Ich fliege nach Hause Eva.“

„Was ist mit deinem Haus?“

„Wird zu einer Galerie für neue Künstler umgebaut.“
„Fliegst du für immer?“
„Ja. Ich versuche mein Glück jetzt dort. Ich brauche einen Neuanfang.“
„Und das ist die Trennung von deinem alten Leben?“
„Ja, wenn du es so sagen willst. Limpa ich habe dir unendlich viel zu verdanken. Ich habe dich wirklich wahrhaftig geliebt. Aber die letzte Zeit in der ich so gehadert habe, wie du weißt, verbinde ich zu stark mit dir, weil du immer präsent warst, was gut war, aber ich brauche Abstand davon. Ich brauche was neues, neue Leute, neue Orte, ein neues altes Zuhause.“
„Du hast Recht Adam. Es wird das beste für uns beide sein. Ich will dir auf deinem künstlerischen Weg nicht im Weg sein. Ich wünsche dir alles gute.“, sie überwand sich zu einem lächeln, hinweg über die glasigen Augen.
„Ich wusste du würdest es verstehen. Danke. Danke Eva für alles.“
Ein letztes mal umarmte er sie und ein letztes mal sog sie seinen so vertrauten, geliebten Duft ein und ein letztes mal küssten sie sich fest und dennoch sanft auf die Lippen, lösten sich nur langsam voneinander. Adam blieb noch eine ganze Weile in der Tür stehen und schaute sie an bevor er schließlich mit einem „Lebe wohl!“ den Raum verließ.
Limpa ließ sich in ihren Stuhl fallen und stieß einen lauten Seufzer aus. Sie dachte über ihr Leben nach: Eine fünfunddreißig jährige Polizeikommissarin auf der Suche nach einem Serienkiller, frisch getrennt von einem aufstrebendem Künstler, nach nicht mal vier aber dafür sehr intensiven Monaten Beziehung, eine Scheidung schon hinter sich, aber keine Kinder. Und so wirklich wollte Olimpia auch nie welche haben. Seit sie mit Adam zusammen war, kannte sie nichts anderes mehr außer ihm. Andere Leute traf sie nur auf seinen Ausstellungen und auf der Arbeit, wobei sie schon vorher kein ausgeprägtes Sozialleben hatte. Deswegen schien es niemanden aufzufallen, dass sie sich mehr und mehr abkapselte. Nichtsdestotrotz waren die letzten vier Monate mit Adam die glücklichsten ihres Lebens gewesen, selbst mit dem unsichtbaren Kölner im Nacken. Und nun – nun ist dieses Glück vorbei – endgültig.

Es ist kalt geworden und trostlos in Köln. Die Weihnachtsmärkte wurden aufgebaut und die sale-Schilder in den Vitrinen aufgestellt, Dutzende Polizisten streiften durch die Innenstadt. Man ließ sich nicht anmerken, dass die Stimmung bedrückt war. Die rheinische Frohnatur lässt sich nicht so schnell unterkriegen. Seit der Festnahme von Kurat sind ungefähr vier Wochen vergangen und in dieser Zeit sind keine weiteren Frauen verschwunden, trotzdem wartete man noch mit dem Aufatmen – man hatte gelernt sich nicht zu früh zu freuen.
Gabriel ließ sich mithilfe alter Freunde in die JVA einschleusen, um mit Kurat ohne Anwalt und Kameras sprechen zu können. Kurat wurde rein gebracht, Gabriel saß schon am Tisch. Selbst in dieser Situation konnte sich der in Handschellen gelegte sein Grinsen nicht verkneifen, blieb aber Stumm.
„Bekommst du hier die Nachrichten mit?“, fing Gabi an nachdem er ihn eingehend gemustert hatte.
„Und wie.“, Kurat lehnte sich zurück.
„Hervorragend. Hast du diese Info gestreut?“
Er lachte: „Wer weiß.“
„Also ja. Aber ich bin heute hier um mit dir über etwas anderes zu reden.“
„Spannend!“
„Inwiefern steckst du mit dem echten unsichtbaren Kölner unter einer Decke?“
„Sie erwarten doch jetzt keine Hilfreiche Antwort oder? Denn entweder ich stecke nicht mit ihm unter einer Decke – dann hat sich alles erledigt. Und wenn doch, wieso sollte ich ihnen etwas sagen?“
„Die Leiche die wir zusammen mit dir im Wald gefunden haben, hast nicht du getötet, sondern aus dem Krankenhaus mitgehen lassen. Bis jetzt habe nur ich diese Info, deswegen ist auch bisher noch niemand gekommen.
„Wie aufregend Herr… ehm…“
„Geht dich ein Scheiß an.“
„Ja dann ist die Leiche geklaut und weiter? Was ändert das?“
„Die Leute stempeln mich oft als doof ab aber zu unrecht. Ich glaube der echte unsichtbare Kölner hat dich beauftragt die Schuld auf dich zu nehmen. Ich habe nämlich ein bisschen recherchiert und durch die Unachtsamkeit der Sekretärin deines Anwalts kenne ich deinen Namen. Ja ganz richtig gehört Nicolai Smirnow. Und ich weiß, dass du in St. Petersburg als Schauspieler angefangen hast und dann für drei Monate in die Geschlossene kamst, weil du ein klein wenig verrückt bist. Meiner Meinung nach schon etwas riskant einem Verrückten anzuvertrauen seinen Arsch zu retten. Ich frag mich auch für welchen Preis du das alles auf dich genommen hast.“
„Ich bin nicht verrückt!“, rief Nicolai, zum ersten mal sah man so etwas wie menschliche Züge in seinem entgleisten Gesicht.
„Doch, genau deswegen wählte er dich aus. Er brauchte einen Sündenbock und etwas Zeit um sich in Sicherheit zu bringen, also engagierte er einen jungen erfolglosen Schauspieler für vermutlich viel Geld, der eine Leiche in den Wald bringen sollte – von dem wir ja schon wussten. Dieses trojanische Pferd sollten wir dann ohne zögern fangen und eine ganze Weile mit dem öffnen beschäftigt sein, um dann herauszufinden, dass alles nur eine große Verarsche war.“
„Sind sie stolz auf ihre Verschwörungstheorie?“, Nicolai hatte sich wieder gefasst.
„Gib es doch einfach zu! Ich habe dich und ich habe Beweise.“
„Beweise? Meinen Namen oder was? Was beweist das schon? Das sind Höchstens Indizien – vor Gericht bringt das doch nichts.“
„Deswegen bin ich hier, damit du deine Aussage machst.“
„Wieso sollte ich?“
„Ich habe immer noch die Leiche – das ist ein menschengroßer Beweis. Plus die Lügen die du uns erzählt hast, dass du der Mörder der Frauen warst, bringen dir bestimmt ein paar Jahre hinter Gitter. Aber wenn du mir verrätst wer der unsichtbare Kölner ist, kommst du mit einer Bewährungsstrafe davon.“
„Erzählen sie mir doch keine Märchen!“
„Du glaubst gar nicht mit wie vielen Richtern ich am Wochenende noch ein Kölsch trinken gehe und wie viele mir noch eine Gefallen schulden.“
„Und wenn schon.“
„Denkst du er wird dir irgendwie dankbar sein für deine Loyalität und ihr reitet zusammen in den Sonnenuntergang? Spätestens bei der Geldübergabe – egal wie er es anstellen wird – kriegen wir ihn. Und dann kommt ihr beide ins Gefängnis. Und ich bin mir sicher, er wird dich fallen lassen wie eine heiße Kartoffel und alles auf dich schieben.“
„Das möchte ich erleben.“
„Idiot. Also sagst du nichts?“
„Ich kann ihnen vieles sagen nur nicht das was sie wissen wollen.“
Gabi stand auf und ging zur Tür. „Aber eins muss ich dir lassen, deine Rolle hast du gut gespielt.“
„Ihr werdet ihn nie kriegen.“, Nicolai lachte.

 

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