preloder

Endlose Weiten

04/08/17
Es fühlt sich so unreal an hier zu sein. Es ist als wäre das nicht echt, sondern ich würde mich erinnern, wie es früher war und die Erinnerung ist einfach nur sehr lebhaft. Nichts hat sich verändert – die Häuser, die Autos, die Natur, das Essen, die Menschen. Nichts hat sich verändert. Nur ich bin anders geworden und verstehe nicht, dass ich wirklich hier bin.

Ich sehe aus dem Fenster des fahrenden Zuges und sehe wunderschöne Wälder von Laub- und Nadelbäumen, hochgewachsene Blumen und Gräser auf Feldern, Felsvorsprünge auf denen im Wald verborgen einzelne Häuser stehen und dazwischen kleine Dörfer, wo die Menschen still und vergessen von allen, leben. Es fühlt sich an wie Zuhause – aber nur wie eine Erinnerung davon.

10/08/17
Du gehst an die frische Luft, die sich schwer, staubig und trocken auf die Schultern legt, atmest tief ein und lässt die Sonne in dein Gesicht scheinen, atmest aus und siehst endlose Weiten vor dir. Diese Schönheit, Freiheit und Gefühl von Heimat überkommt dich in diesem Moment. Du weißt einfach du gehörst hier hin – mit jeder Zelle deines Körpers spürst du das ist der eigentliche Platz für dich. Hier fühlt sich alles richtig an – auch die Dinge die Falsch laufen, weil du verstehst warum. Du verstehst die Leute und alles macht einen Sinn – auch was anfangs keinen Sinn macht.

14/08/17
Und wenn du die alten Denkmäler siehst die für die Zeit stehen, wo die meisten Leute mit Landwirtschaft ihr Geld verdient haben – wo man vom Lohn noch Leben konnte, wo die Dörfer und Städte noch nicht an einen verlassenen, heruntergekommenen, aus der Vergangenheit stammenden Ort erinnerten, dann merkst du dennoch ein weizenkorngroßer Funke von der Lebenseinstellung von damals lebt noch in einigen der Leute, wo nicht alle jeden Rubel zweimal umdrehen mussten und nur die dreisten durch klauen und krumme Geschäfte vier dicke Autos haben können.

Die erwähnten Denkmaler in jedem kleinen Dorf, in jeder kleinen Stadt zeigen einfache arbeitende Männer und Frauen die ernst und dennoch freundlich in einfachen russischen Gewändern zusammenstehen und vor ihnen ein landwirtschaftliches Gerät, so etwas wie ein Traktor mit einem Anhänger zum Umgraben, und ganz natürlich ragt hier und da eine Ähre Weizen hervor – buchstäblich das Brot der Menschen.

Und dann wurde dieses Leben kaputt gemacht und die Leute hatten nichts, es gab auch nichts was sie haben könnten, alles verkam, Leute hungerten, Leute klauten, es bildeten sich endlose Schlangen vor den Läden, Leute warteten stundenlang auf etwas Brot, warteten aber vielleicht umsonst, weil bis sie an der Reihe waren es keins mehr gab. Die Leute flüchteten in andere Länder in der Hoffnung auf ein einfaches Leben, was ihnen versprochen wurde, verließen ihre geliebte Heimat und versuchten sich was Neues aufzubauen, gaben alles auf, in der Angst sie könnten sich und ihre Liebsten nicht mehr ernähren, weil kein Lohn mehr bezahlt wurde – Monate, Jahre.
Nach diesen schwierigen, schrecklichen Jahren – in denen ich geboren wurde, hat sich die Situation normalisiert und in ausgewählten großen Städten mit viel Geld geht es Bergauf aber die Leute vom Land, die Leute auf den Denkmälern wurden vergessen und keiner erinnert sich an sie. Es werden immer weniger und irgendwann werden sie alle verschwinden und was bleibt sind die endlosen Weiten Russlands.

15/08/17
Der Hahn kräht, die Hühner gackern und die Vögel zwitschern – ansonsten ist alles still. Ab und zu muht eine Kuh, du stehst auf und die Zeit steht still, nichts bewegt sich.
Durch das flache Land stößt die Sonne auf kein Hindernis beim aufgehen – das Dorf erwacht: Hundegebell, Rasenmäher, ein Traktor macht sich auf den Weg, ein Auto fährt vorbei, ein paar Kinder radeln mit ihrem Fahrrad hin und her und überlegen was sie in dieser eintönigen Landschaft spielen könnten. Kurz nach Mittag wenn die Hitze am unerträglichsten ist, geht man ins kühle Heim und ruht sich vom frühen, anstrengenden Morgen aus. Außer ein paar betrunkene Männer die sich mit ihren betrunkenen Frauen streiten und ab und zu wenn die Sonne den Alkohol trifft und knallt, dann können auch mal Töpfe und Pfannen fliegen und wenn einer dann schließlich im Nachbarsgraben unter einem schattenspendenden Busch seinen Rausch ausschläft und seine Frau ihn sucht und flucht, dann sind alle Dorfbewohner wieder wach und schauen sich das Spektakel in Ruhe, grinsend und kopfschüttelnd an.
Wenn die Hitze vorbeigegangen ist, kriechen alle wieder aus den Häusern und erledigen Dinge im Beet, ernten Gemüse, gießen den trockenen Boden, füttern die Tiere oder schlachten sie, erledigen ein paar Besorgungen, besuchen die Nachbarn oder reparieren was am Haus, legen was ein in der Sommerküche ([летняя кухня] was ein Einzimmerhäuschen ist – eine Küche die nur im Sommer benutzt wird). Wenn die Sonne untergegangen ist und die Kühe von ihrer täglichen Grasung nach Hause getrieben werden wird es friedlich, das Dorf legt sich in Rauch und ein beruhigender Duft von Feuer verbreitet sich überall – Banja [баня] wird geheizt, man wäscht sich, schaut sich eine Serie im Fernsehen an und geht schlafen.

23/08/17
Wenn es draußen heiß ist und der Wind vom flachen Land ganz sanft dein Gesicht berührt, dann scheint die Welt noch in Ordnung.
Libellen, Fliegen, Bienen, Mücken und Schmetterlinge fliegen in Scharren umher und lassen dich nicht allzu sehr zur Ruhe kommen, weil du dich manchmal wehren musst. Enten, Hühner, Gänse, Elstern, Raben und Spatze singen ein Lied für dich und werden hin und wieder von bellenden Hunden unterbrochen. Der Wind lässt die Äste der Bäume rascheln und wenn dieses kleine behutsame Geräusch kurz verstummt, dann hört man nichts mehr außer das Zirpen der Grillen. Der Wind lässt die frisch aufgehängte Wäsche tanzen. Der Himmel ist blau und die Hitze durch die freundliche Brise gerade noch auszuhalten. Es ist still auf dem Land aber nie sorgenlos.

Jetzt wo die Zeit nicht mehr im Zeitraffer läuft, ist es schon wieder Zeit zurück zu kehren.

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